ADHS ist mehr als das unruhige, zappelnde oder träumende Kind. Die Frage „Was ist ADHS“ hat schon viele Debatten entfacht, die immer wieder neu angefeuert werden. Vielen erscheint es einseitig, ADHS als Syndrom oder gar als Krankheit zu bezeichnen. Andere hingegen vertrauen auf den festgelegten Begriff Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom und sehen ADHS als das, was uns die Wissenschaft vorgibt: Als neurobiologisch bedingte Krankheit. Doch vorschnell wird die Modekrankheit falsch interpretiert oder diagnostiziert.
ADHS-Symptome bei Erwachsenen und Kindern
Die ausgeschriebene Bezeichnung von ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom, ist nicht falsch, aber missverständlich. Denn der Name spricht nur zwei Merkmale an, die typische Symptome für ADHS-Betroffene sein können. Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität sind allerdings nicht bei jedem Betroffenen die auschlaggebendsten Defizite, sind auch nicht immer gleich ausgeprägt und teilweise sogar gar nicht vorhanden. Die „American Psychiatric Association“ unterteilt die typischsten Symptome in drei verschiedene Kategorien: Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit. Sowohl Kinder als auch Erwachsene, bei denen eines oder mehrere der drei Symptome ausgeprägt sind, können Folgendes aufweisen:
1. Hyperaktivität
Besonders auffällig bei dem Symptom der Hyperaktivität ist, dass motorische Unruhe oft in innere Unruhe übergeht. Das bedeutet, Körper und Geist können sich in einem hyperaktiven Zustand befinden. Viele Kinder mit ADHS reden daher exzessiv und können es oft nicht abwarten, zu Wort zu kommen. Sie plappern drauflos, was ihnen oftmals den Schulalltag erschwert. Zudem ist auffällig, dass Kinder mit ADHS einen starken Bewegungsdrang verspüren. Sie klettern, toben und spielen sehr ausgelassen und laut, sind ständig auf Trab, weshalb ADHS im Volksmund als „Zappelphilipp-Syndrom“ bezeichnet wird. Auch dieses Symptom kann besonders in der Schule ein negativer Faktor für das Kind sein: Der Bewegungsdrang ist manchmal so gross, so dass Kinder aufstehen und den Klassenraum verlassen möchten, um eine Runde zu rennen.
Auch im Erwachsenenalter drückt sich Hyperaktivität auf eine ähnliche Art und Weise aus: Die Betroffenen reden viel, verkörpern innere Unruhe und haben Probleme, zu entspannen. Teilweise kennzeichnet Hyperaktivität auch, dass Betroffene häufig unnötige Bewegungen ausführen, die für den Aussenstehenden nicht erklärbar sind. Aus diesen Gründen leben Erwachsene mit Hyperaktivität oft gern selbstbestimmend und führen einen aktiven Lebensstil.
Mögliche Merkmale auf einen Blick
- Exzessives Reden
- Starker Bewegungsdrang
- Innere Unruhe
- Probleme, sich zu entspannen
- Aktiver Lebensstil
2. Impulsivität
Für Kinder mit Impulsivität ist es schwer, die Geduld zu bewahren, beispielsweise wenn es darum geht, wer bei einem Spiel zuerst an der Reihe ist oder wer im Unterricht das Wort ergreifen darf. Ähnlich wie bei der Hyperaktivität können sich die Betroffenen schwer zurückhalten, um andere aussprechen zu lassen, und platzen mit ihren Antworten heraus.
Als Erwachsener spiegelt sich die Impulsivität vor allem durch überstürzte Handlungen wider, bei denen es Aussenstehenden oft so vorkommt, als wären die Konsequenzen dabei nicht ordentlich durchdacht. Ein Beispiel dafür ist, dass Erwachsene mit ADHS tendenziell öfter ohne triftigen Grund und überstürzt den Arbeitsplatz wechseln. Hinzu kommt bei diesem Merkmal, dass Betroffene schneller reizbar sind und rascher Wut im Bauch verspüren. Die „American Psychiatric Association“ berichtet ausserdem, dass Erwachsene mit Impulsivität häufiger Substanzen missbrauchen.
Mögliche Merkmale auf einen Blick
- Schnelle Reizbarkeit
- Impulsive Handlungen
- Konsequenzen werden nicht bedacht
- Redet dazwischen und platzt mit Antworten heraus
- Missbrauch von Substanzen
3. Unaufmerksamkeit
Kinder, die Schwierigkeiten mit der Konzentration haben, lassen sich leicht ablenken, neigen zu Vergesslichkeit und haben Schwierigkeiten, aufmerksam zuzuhören. Zudem ist es typisch, dass Aufgaben nicht beendet werden, das Organisationsgeschick auf der Strecke bleibt und häufiger Dinge verlegt oder verloren gehen. Betroffene Kinder meiden oftmals länger andauernde, geistige Tätigkeiten, die überdurchschnittliche Anstrengung erfordern.
Erwachsene haben ähnliche Symptome wie die Kinder. Es fällt ihnen schwer, sich zu fokussieren, etwa beim Erledigen von Büroarbeiten, und sie weisen Defizite im Organisieren auf, etwa bei der Urlaubsplanung. Mangelndes Zeitmanagement, Schwierigkeiten, Aufgaben bis zum Ende durchzuführen, Vergesslichkeit oder Ablenkbarkeit führen bei Kindern und Erwachsenen oft zu einer ineffizienten Arbeitsweise. Auffällig ist allerdings, dass sich viele Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsschwäche nicht über ihre Probleme beklagen, sondern mit unterschiedlichen Strategien versuchen, unangenehme Defizite zu kompensieren.
Mögliche Merkmale auf einen Blick
- Probleme, Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten
- Leicht ablenkbar
- Neigt zu Vergesslichkeit
- Schwierigkeiten, Aufgaben zu beenden
- Organisationsschwierigkeiten
- Vermeidung/Ablehnung von geistig anstrengenden Aufgaben
- Verliert/verlegt Sachen
- Ineffizientes Arbeiten
Schlummernde Potenziale
Betroffene bergen zum Teil andere Besonderheiten, von denen die meisten Menschen kaum Kenntnis haben. Potenziale, die ADHS-Betroffene möglicherweise sogar positiv von anderen abheben lassen, stehen oftmals im Schatten der Defizite, wobei diesen Potenzialen nicht weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.
1. Hyperfokus
Besondere Konzentrationsfähigkeit trotz Aufmerksamkeitsdefizit klingt zunächst paradox. Doch Wissenschaftler vom „FMH Psychiatrie und Psychotherapie“ in Affoltern am Albis bestätigten in einer Studie, dass ADHS-Betroffene eine besonders stark ausgeprägte Konzentrationsfähigkeit entwickeln können, wenn Sie sich für eine Aufgabe begeistern. Das Hyperfokussieren, auch Hyperfokus genannt, ist eine bestimmte Art der Konzentration. Gelingt es dem Betroffenen, für etwas eine ganz besondere Motivation aufzubringen, ist er dazu in der Lage, Themen sehr schnell zu begreifen und ohne Pause intensiv und ausdauernd zu arbeiten. Die Vorrausetzung für den Hyperfokus ist demnach höchstwahrscheinlich ein starker, lustvoll antizipierter Stimulus. Der Psychologe Edmund Sonuga-Barke von der „University of Southampton“ beschrieb schon 1998, dass sogenannte aufmerksamkeitsgestörte Kinder ihren normalen Altersgenossen durch die Kraft der Motivation überlegen sein können. Der Hyperfokus hat grosse Vorteile, wenn ein Thema selbständig bearbeitet werden muss. Dies wäre auch eine Erklärung dafür, dass sich viele ADHS-Betroffene selbstständig machen und es geniessen, ihre Arbeitszeiten flexibel zu gestalten.
2. Hypersensibilität
Viele ADHS-Betroffene haben hypersensible Empfindungen. Das heisst, sie nehmen alle menschlichen Sinne häufig in gesteigerter Form wahr. Somit sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen sie teilweise deutlich besser als andere Menschen und haben eine gesteigerte Intuition. Auch scheint es, als würden sie über das Normale hinaus viel mehr aufnehmen können. Neurobiologischen Erkenntnissen zufolge liegt der Grund dafür darin, dass ihre Wahrnehmungen weniger gefiltert werden, als bei anderen Menschen. Durch ihre hypersensiblen Empfindungen registrieren ADHS-Betroffene Sympathien, wie auch Antipathien deutlich schneller. Dies kann zu sozialen Konflikten führen. Die Hypersensibilität oder die konstante Reizüberflutung, kann bei Betroffenen sogar Depressionen auslösen. Grundsätzlich enthält aber eine bewusst gelebte Hypersensibilität ein grosses Potenzial. Nicht selten sind ADHS-Betroffene beruflich im kreativen Bereich tätig.
Ist ADHS eine Modekrankheit geworden?
Bei immer mehr Kindern wird die Diagnose ADHS festgestellt. Wie die Schweizerische Ärztezeitung berichtet, ist der Bezug von ADHS-Medikamenten wie Ritalin in den vergangenen Jahren um 42 Prozent gestiegen. Während viele Wissenschaftler neurobiologische Prozesse weiter erforschen, gehen andere Forscher mittlerweile davon aus, dass ein Grossteil der Kinder mit der vermeintlichen Diagnose ADHS einen normalen Entwicklungsprozess durchlaufen.
Warum steigt die Zahl der ADHS-Betroffenen?
Zahlreiche Studien führen den Grund eines Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndroms auf genetische Ursachen zurück. Wie passt das zusammen? Haben sich Kinder in den letzten Jahrzehnten verändert? Das schon, aber nicht ihre Genetik ist anders geworden.
Zunächst ist es wichtig, zu verstehen, dass ADHS im Wesentlichen ein kulturelles Phänomen geworden ist. Da die Reizdichte wächst, wird der Mensch in seiner Wahrnehmung immer mehr beansprucht. Das Subjekt muss heute selbstständig den Umgang mit immer mehr Sinneseindrücken lernen. Wenn wir beispielsweise mit dem Zug unterwegs sind, hören wir neben den Geräuschen im Gleisbett die Gespräche der Mitfahrenden, ein unruhiges Kind im anderen Abteil, einen bellenden Hund gegenüber oder das klingelnde Telefon in der Tasche. Wir sehen Anzeigetafeln im Abteil, neue Meldungen auf dem Smartphone, Laptop oder Tablet, wir riechen unterschiedliche Parfüms und Lebensmittel unmittelbar in unserer Nähe und fühlen das Polster auf unserem Sitz.
Für fast alle Menschen ist es nicht einfach, so viele Reize zu selektieren, also das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Wer es nicht schafft, sich bei so vielen Eindrücken gleichzeitig auf eine anspruchsvolle Aufgabe zu konzentrieren, leidet nicht umgehend an ADHS. Bei einem zu hohen Reizpensum kann die Belastbarkeit jedes Menschen Grenzen erreichen. Zudem glauben viele Eltern, sie müssen ihren Nachwuchs ständig stimulieren. Oft übermannt sie das Bedürfnis zum Beispiel bei Unmutsäusserungen ihrer Sprösslinge. Andauernde Überstimulation kann bei Kindern eine fatale Rückkopplungsschleife in Gang setzen. Denn je mehr Stimulation sie bekommen, desto mehr dürsten sie nach neuen Reizen.
Krankheit oder nicht?
Wichtig zu wissen ist, dass ADHS-Diagnosen heutzutage vorschnell getroffen werden und somit die Bezeichnung ADHS immer mehr zu einer allgemeinen Bezeichnung für Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen und Unruhezuständen wird. Wer tatsächlich betroffen ist, hat oft eine andere Wahrnehmung, was dazu führt, dass Nicht-Betroffenen ihr Verhalten anders vorkommt. Manchen fällt es schwer, ADHS nicht nur als etwas Negatives zu betrachten. Nicht nur Aussenstehende haben damit Schwierigkeiten, sondern auch ADHS-Betroffene selbst entwickeln oft ein falsches Selbstwertgefühl. Daher ist es verständlich, dass ohne das gesamte Wissen über ADHS, der Begriff „Krankheit“ oder „Syndrom“ wie ein reduzierter Überbegriff für etwas Unliebsames erscheint, obwohl das sogenannte ADHS auch viele positive Eigenschaften mit sich bringen kann.