Wenn Kinder bereits ab der Vorschule Schwierigkeiten mit der Konzentration haben, so wird immer häufiger die Diagnose ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) oder ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom) gestellt.*
AD(H)S wurde als eine der häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter und als eine medizinisch anerkannte Störung in die Diagnosekompendien der Weltgesundheitsorganisation ICD-10 und im DSM-IV der American Psychiatric Assciation aufgenommen. Man vermutet heute, dass Hauptursachen für ADHS in Veränderungen der Funktionsweise des Gehirns zu suchen sind. Bereits 1845 beschrieb der Frankfurter Nervenarzt Dr. Heinrich Hoffmann Anzeichen einer ADHS in seinem weltbekannten Kinderbuch „Struwwelpeter» anhand des Zappelphilipps.
Allein in den Jahren 2006 bis 2011 ist die Zahl von AD(H)S Diagnosen explosionsartig um 42% in Deutschland gestiegen (Arztreport 2013 der Barmer GEK). Der schweizweite Durchschnitt lag 2014 bei 2.4 %.
Immer wieder stellen sich besorgte Eltern die Frage, ob es sein könnte, dass dies eine vorschnelle Fehldiagnose sein könnte? Vielleicht liegen Ärzte und Psychologen mit ihrem Urteil falsch und verschreiben Medikamente, sogenannte Methylphenidate (auch in Ritalin enthalten), vorschnell? Im Kanton Zürich erhielten 3000 Kinder (2,6 %) im Jahr 2012 im Vergleich zu 2006 doppelt so viel Ritalin (Studie der ZHAW). Eine Diagnose sollte nicht leichtfertig gestellt werden, denn sowohl die ICD- als auch die DSM-Kriterien setzen beide voraus, dass die Verhaltensauffälligkeit von AD(H)S über mindestens sechs Monate beobachtet wird.
Bereits vor einer Diagnose ist der Leidensdruck vieler Eltern hoch und sie empfinden eine AD(H)S Diagnose als belastend, als unstimmig und suchen nach alternativen Erklärungsansätzen für die Konzentrationsschwierigkeiten ihres Kindes. Es ist verständlich, dass viele Eltern unsicher sind, ob diese Diagnose richtig ist. Immer wieder fragen Eltern, ob es sein könnte, dass ihr mit AD(H)S diagnostiziertes Kind einfach nur hochsensibel ist?
Da ich bereits im Artikel «Was ist HSP?» näher auf die Kriterien und Verhaltensweisen von HSP eingegangen bin weise ich darauf zurück und halte mich hier mit der Definition kurz:
Hochsensible Personen sind Menschen, die von Natur aus auf innere und äussere Einflussfaktoren empfindlicher reagieren und diese neurologisch komplexer verarbeiten als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Meine Absicht ist hier HSP von AD(H)S abzugrenzen, da es zwar in einigen Situationen Überschneidungen gibt, sich beide aber deutlich voneinander unterscheiden und auch unterschiedlich behandelt werden sollten.
AD(H)S-Symptome lassen sich in folgende drei Bereiche einteilen:
– Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwächen (Aufmerksamkeitsstörung)
– Impulskontrolle (Impulsivität)
– Aktivität (Hyperaktivität)
Diese treten gewöhnlich in mindestens zwei Lebensbereichen (z.B. Familie und Kindergarten/Schule) über mehr als sechs Monate gemeinsam auf.
In den Kernbereichen Konzentrationsfähigkeit und Impulskontrolle erkenne ich Unterschiede und Gemeinsamkeiten von AD(H)S-Kindern und Hochsensiblen Kindern.
Konzentrationsfähigkeit – Unterschied und Gemeinsamkeit
AD(H)S Kindern fällt es schwer sich zu konzentrieren, selbst dann wenn es sich konzentrieren möchte und unabhängig davon, ob es ein lautes oder stilles Umfeld ist. HSP hingegen gelingt es oft sehr gut, sich zu konzentrieren.
Wenn hochsensible Kinder jedoch in einer Stresssituation sind, können sich auch wie bei AD(H)S-Kindern Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwächen zeigen. Solche Stresssituationen für ihr Nervensystem erfolgen beispielsweise in einer Phase von Übererregbarkeit, sensorischer Empfindlichkeit, emotionaler Intensität und vielschichtiger Informationsverarbeitung. Als Folge äussert sich dies als Überstimulation, langem Nachhallen und schmaler Komfortzone.
Impulskontrolle – Unterschied und Gemeinsamkeit
AD(H)S-Kinder haben in der Regel eine schlecht ausgebildete Impulskontrolle, sie handeln ohne nachzudenken und haben eine tiefe Frustrationstoleranz. Sie verhalten sich ungeduldig, platzen sehr oft in Gespräche oder Spiele anderer hinein, stören meist geregelte Abläufe in Familien, Kindergärten und Schulen.
Bei hochsensiblen Kindern sind impulsives «Herausplatzen» eher untypisch, sie sind eher wenig spontan und bevorzugen längeres Abwarten einer Antwort oder Reaktion aufgrund vielschichtiger Wahrnehmung von Impulsen. Jedoch gibt es bei HSP in Phasen der Reizüberflutung, in denen sie keine Kapazitäten für ihre vielschichtigen Eindrücke haben und ihr Nervensystem komplett überfordert ist. Dann zeigt sich auch bei HSP leicht aggressives Verhalten oder ein emotionales in sich zusammenfallen.
Anhand der folgenden Bereiche lassen sich HSP und AD(H)S zudem gut unterscheiden:
HSP | AD(H)S | |
Genetisch bedingt | Ja Verschiedene Gehirnareale sind gleichzeitig aktiviert, im visuellen Kortex, dem limbischen System (Steuerung von Emotionen, Beeinflusst Gedächtnis oder Antrieb) und der Region die Sinnesreize verarbeitet. Dies ist ein erstmaliger neurowissen-schaftlicher Beleg für die erhöhte Empfindungsfähigkeit von HSP von der Forschergruppe Elaine und Art Aron und Bianca Acevedo | Ja Mit hoher Wahrscheinlichkeit eine meist erbliche, neurobiologische Störung: Eine Veränderung im Stoffwechsel des Botenstoffs Dopamin im Gehirn ist für die typischen AD(H)S-Symptome verantwortlich. |
Anzahl | 15–20% Personen weltweit, davon 70% introvertiert und 30% extravertiertGeschlechtsunspezifisch | 5% Kinder & Jugendliche weltweit (6-18 Jahren)Jungen: 3-6-mal häufiger |
Steuerung | Sinngesteuert | Impulsgesteuert |
Lebensbereiche wie Schule, Freizeit/ Hobby und zu Hause/Familie | Deutliche Unterschiede im Verhalten je nach Lebensbereich | Auffälligkeiten in mind. zwei Bereichen über mehr als sechs Monate |
Risikoeinschätzung | Eher vorsichtig, möchten sich nicht verletzen (introvertierte) | Schlechte Risikoeinschätzung, oft experimentierfreudig |
Anpassung | Bemühen sich ihrem Gegenüber anzupassen, unsicher bezüglich sozialer Spielregeln und reagieren darum verkrampft, verzögert oder erscheinen langsamSie haben die Motivation Dinge «gut und gründlich» zu machen | Treten ihrem Gegenüber als gehetzt auf und nicht bemüht sich anzupassen Können soziale Spielregeln nur schwer umsetztenSie haben kaum Kapazität dafür die Motivation aufzubringen Dinge «gründlich» zu machen, da sie oft abgelenkt sind |
Einhalten von Regeln | Orientieren sich an Regeln, kennen diese und halten sie meist ein | Können Regeln schlecht erfassen und einhalten |
Altersgerechtes Verhalten | Sozial-emotional reifer als Gleichaltrige | Sozial-emotionaler weniger reif als Gleichaltrige |
Selbstgespräche | Sprechen mit sich selbst und können dadurch Handlungsabläufe planen | Sprechen weniger mit sich selbst, können sich dadurch schlechter steuern und haben Mühe mit Planung von Handlungsabläufen oder mit Umgang intensiver Gefühle |
Aufmerksamkeit Konzentrationsfähigkeit | Konzentrationsverlust nur bei äusserer und innerer Überstimulation, dann fahrig, unkonzentriert, irritiert, dadurch FlüchtigkeitsfehlerAnsonsten lange Konzentrationsphasen, grosse Sorgfalt, nicht leicht abzulenkenSchularbeiten, Malen/Basteln, Puzzeln oder Spiele nach Regeln sind kein Problem | Generelle Schwierigkeiten sich länger zu konzentrieren, erhöhte Ablenkbarkeit dadurch FlüchtigkeitsfehlerKinder haben keine Geduld für Schularbeiten, ruhiges Malen/Basteln oder für Spiele nach RegelnAbbruch von Tätigkeiten und Vermeidung von Anstrengung |
Aktivität Bewegungsdrang (drinnen / draussen) | Keine ausgeprägte AktivitätEher in sich ruhend, falls sie aufgrund Reizüberflutung zeitweise unruhig sind, äussert es sich in der Regel nicht im unangepassten VerhaltenKein ausgeprägter Bewegungsdrang, sind fast lieber zu Hause (introvertiert) | HyperaktivitätMotorische Unruhe, Muster exzessiver motorischer Aktivität, fuchteln mit Händen und Füssen, können nicht stillsitzen. Starker BewegungsdrangGehen gerne raus |
Impulskontrolle | Impulsives «Herausplatzen» eher untypischEher wenig spontan, längeres abwarten einer Antwort oder Reaktion aufgrund vielschichtiger Wahrnehmung von Impulsen | Schlecht ausgebildete Impulskontrolle, sie handeln ohne nachzudenken und haben eine tiefe FrustationstoleranzSind ungeduldig, platzen ständig in Gespräche oder Spiele anderer hinein, stören meist geregelte Abläufe in Familien, Kindergärten und Schulen |
Zusatz für Bezugspersonen von hochsensiblen und AD(H)S-Kindern:
Mir ist noch wichtig darauf hinzuweisen, dass sich Hochsensible und AD(H)S-Kinder so gut verhalten wie sie sich verhalten können. Erwachsene als Gegenüber dürfen verstehen, dass sie ihr Verhalten meist nicht besser kontrollieren können und ganz bestimmt darum bemüht sind, ihr Bestes zu geben.
Hochsensible Kinder können auch wie AD(H)S-Kinder in ihrer schulischen, beruflichen und sozialen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt sein. Ihre Bezugspersonen werden hier oftmals herausgefordert genau zu beobachten, welche Bedürfnisse hinter ihrem Verhalten steckt und neue Wege zu finden.
In der Regel wirkt es unterstützend, ein sicheres Umfeld zu haben in dem sie sich wohl fühlen. Hochsensible benötigen die für sieangemessene Ruhepausen und Entspannungstechniken wie z.B. Atemübungen. Oftmals zeigen sie dann keine der beschriebenen Auffälligkeiten.
Das familiäre Umfeld ist nicht die Ursache der Störung von AD(H)S; es beeinflusst aber den Verlauf der Krankheit. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist AD(H)S eine meist erbliche, neurobiologische Störung: Eine Veränderung im Stoffwechsel des Botenstoffs Dopamin im Gehirn ist für die typischen AD(H)S-Symptome verantwortlich.
Therapiemöglichkeiten
ADHS/ADS sind Erkrankungen, die mit Therapien zur Fokussierung und Aufmerksamkeitssteigerung sowie gegebenenfalls ergänzend mit Medikamenten wie z.B. Ritalin behandelt werden. Der Wirkstoff Methylphenidat, aus dem Ritalin oder auch andere Präparate bestehen, hat normalerweise einen anregenden und aufregenden Effekt. Bei AD(H)S Erkrankten steigert dies die Konzentration, die Leistungsfähigkeit sowie die Ausdauer. Gleichzeitig birgt er auch einige Nebenwirkungen.
Bei Hochsensiblen würde Ritalin keine verbesserte Wirkung erzeugen, sondern eher wie ein Aufputschmittel wirken. HSP werden nicht medikamentös behandelt. Es ist daher ratsam einen verbesserten Umgang mit der erhöhten Wahrnehmung zu erlernen, zu schauen wie der Alltag förderlicher verändert werden kann und die Bezugspersonen sensibilisiert und informiert bestmöglich werden. Ritalin hat keine verbesserte Wirkung auf HSP und diese werden nicht medikamentös behandelt.
AD(H)S und HSP – Beides zusammen?
Darüber hinaus ist es gut möglich, dass jemand sowohl hochsensibel ist als auch AD(H)S hat. Das eine schließt das andere weder ein noch aus. Dieses Thema ist für viele heikel und betroffene Eltern stehen ebenso wie Kinder stark unter Druck. Wenn Ihr Kind mit AD(H)S diagnostiziert ist, und Sie sich nicht sicher sind, ob Ihr Kind hochsensibel ist, so empfehlen wir, all die Ratschläge, die sich für hochsensible Kinder bewährt haben, für Ihr Kind anzuwenden. Dazu gehören z.B.:
- Häufig und regelmäßig Ruhephasen zu Hause einplanen, ohne Fernseher oder anderen Medien sondern etwas Vorlesen, Buch anschauen oder lesen
- Zeitfenster finden um miteinander zu reden (Spaziergänge eignen sich sehr), Spiele spielen
- Regeln, Routine und Rituale geben Orientierung und Klarheit
- Ablenkungen vermeiden
- Positives Verhalten loben
- Förderung der Kompetenz, altersentsprechend
- Atemübungen, autogenes Training, kognitives Verhaltenstraining, Körperübungen wie Yoga, Ernährungsumstellungen, komplementärtherapeutische Therapien wie z.B. Polarity, Kinesiologie, TCM, Homöopathie u.v.m.
Ich hoffe dieser Artikel hat dir etwas mehr Klarheit gegeben. Gerne begleite ich dich oder/und dein Kind beim Umgang mit HSP und der Abgrenzung zu AD(H)S weiter.
*
Vollständigkeitshalber möchte ich hier die Überschneidungspunkte zwischen ADHS und ADS anhand des Bildes von Lifeline aufzeigen. Die Personengruppe mit der AD(H)S Variante ohne H fällt in der Regel häufiger und meist früher auf. Bei der Variante ohne H ist die Trennschärfe zu HSP etwas schwieriger, da sich manche Eigenschaften auch hier wie oben erwähnt kreuzen.

Literaturempfehlungen:
Doris Ryffel-Rawak: Wir fühlen uns anders, wie Erwachsene mit ADS/ADHS sich selbst und ihre Partnerschaft erleben, Huber-Verlag, 2003, ISBN-10: 2003, 3-456-84515-4
Samuel Pfeifer: Der sensible Mensch, Leben zwischen Begabung und Verletzlichkeit, Verlag Brockhaus, Haan, 2002, ISBN-10:3-417- 11803-4
Andrea Brackmann: Jenseits der Norm, hoch- begabt und hochsensibel?, Klett-Cotta, 2006, ISBN-10:3-608-89014-9
Georg Parlow: Zart besaitet, Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hoch- sensible Menschen, Festland-Verlag, 2003, ISBN-10:3-9501765-0-0
Weiterbildung für Fachpersonen Hochsensibilität beim Institut für Hochsensibilität von Brigitte Küster 2021, Altstätten, Schweiz – Kapitel 3 – Diagnostik